Pressemitteilung: Seit einem Jahr ein Trauerspiel – Justizmarathon gegen Neonazis gleicht einer Farce

Heute, am 16. August 2019 jährt sich der Beginn der Verhandlungen gegen die Täter des “Sturms auf Connewitz” am Amtsgericht Leipzig. Die Prozessbeobachtungsgruppe 1101 begleitet seit Beginn die Verhandlungen. Es ist die zeitintensivste Prozessreihe gegen Neonazis in Leipzig, deren Umfang aber in keinem vernünftigen Verhältnis zur Sachaufklärung steht. Lediglich 216 Täter und eine Täterin wurden durch die Polizei ermittelt, darunter rechte Hooligans, Neonazi-Kampfsportler und Rocker. Sie griffen am Abend des 11. Januar 2016 bewaffnet mit Totschlägern und anderen Schlagwerkzeugen den antifaschistisch geprägten Stadtteil Connewitz an und verletzten mindestens 3 Personen, zusätzlich entstand ein Sachschaden von
ca. 113.000 €. Ein Anwohner wurde von einem Metallgeschoss in seiner eigenen Wohnung verletzt. Die Aktion wurde monatelang vorher vorbereitet, die Täter sind aus dem gesamten Bundesgebiet angereist. Von vermutlich 250 bis 300 Neonazis, die daran beteiligt waren, wurden aufgrund der dilettantischen Beweissicherung durch die sächsische Polizei lediglich 217 ermittelt, eine zweistellige Anzahl ist laut Augenzeugen geflüchtet. Pressesprecherin Alex Berg von der Prozessbeobachtungsgruppe 1101 erklärt dazu: “Diese Prozessreihe bietet die Chance, umfassende Erkenntnisse über die ostdeutschen Nazi-Netzwerke zu gewinnen und mehrfach vorbestrafte Neonazis endlich für ihre Taten einzusperren. Das Geschehen am Leipziger Amtsgericht und den umliegenden Gerichten, die mit dem Fall “Sturm auf Connewitz” betreut sind, ist aber eine riesige Farce.” Bis heute wurde durch die Leipziger Justizbehörden kein Strukturermittlungsverfahren eingeleitet. Stattdessen werden in vielen kleinteiligen Verfahren je 2 bis 4 Angeklagte innerhalb weniger Stunden abgehandelt. Mit Ausnahme eines Falls sind alle bisher rechtskräftigen Urteile Bewährungsstrafen. 34 Verhandlungstage sind innerhalb eines gesamten Jahres verstrichen und lediglich 16 Personen wurden rechtskräftig verurteilt. Insgesamt warten noch über 164 Personen auf ihre Verhandlung.
Über 3 ½ Jahre nach der eigentlichen Tat wurden insgesamt weniger als 1/8 der Angeklagten rechtskräftig verurteilt. Ein weiteres Achtel der Angeklagten befindet sich aktuell in zweiter Instanz. Sollten die Verhandlungen – trotz der gerichtlichen Oberflächlichkeit und Ignoranz – mit dieser Geschwindigkeit weitergeführt werden, so wird sich die Prozessreihe noch bis 2026 ziehen. Das letzte Urteil im Fall Connewitz könnte damit über 10 Jahre nach der Tat verhängt werden. Alex Berg
dazu: “Allen vorran die Leipziger Staatsanwaltschaft und das Amtsgericht machen ihren Job einfach nicht. Sie geben sich mit oberflächlichen Einlassungen der Angeklagten zufrieden, ignorieren widersprüchliche Aussagen oder bagatellisieren das Ganze als Jugendsünde.” Im Fall von Nik W. attestierte Staatsanwältin Daute dem bereits vorbestraften Täter sogar eine positive Kriminalprognose – “so etwas ist lächerlich”, so Berg weiter.
In Zeiten eines öffentlich präsenteren Rechtsterrorismus mit Mord- und
Brandanschlägen auf politische Gegner und Migrant_innen ist es das Mindeste, Gerichtsprozesse so führen, dass ein Aufklärungswille zu erkennen ist – sowohl bei der Polizei, dem Verfassungsschutz als auch den Gerichten. Hier bietet die Prozessreihe gegen die 217 Angeklagten eine Chance, zu mal manche der Angeklagten von bekannten Anwälten der Neonaziszene, wie Wolfram Narath, Olaf Klemke oder Dirk Waldschmidt vertreten werden. Auch Frank Hannig, Anwalt des für den Mord an Walther Lübke angeklagten Stephan E., vertritt einen der Angklagten im Prozess. “Wir fordern von den Ermittlungsbehörden und dem Leipziger Amtsgericht die vollwertige Beweisaufnahme, die Benennung der
Körperverletzungsdelikte in den Prozessen und die Identifikation der
Rädelsführer.” so Berg abschließend. Vor allem die Einbeziehung der
Kommunikationsprotokolle und der Telefondaten sowie die bisher ignorierten Körperverletzungen sind für die Wahrheitsfindung entscheidend. Bisher deutet jedoch alles auf eine weitere verpasste Chance seitens der staatlichen Behörden hin, effektiv gegen Neonazi-Strukturen vorzugehen und aufzudecken, wie diese agieren.

Prozessbeobachtungsgruppe 1101
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