Prozess #9 gegen Julian F. aus Erfurt

Am 5. Februar findet am Amtsgericht Leipzig der Prozess gegen Julian F. aus Erfurt statt. Der 22-Jährige sagt relativ umfangreich aus und wird nach Jugendstrafrecht zu einem Jahr und fünf Monaten auf Bewährung verurteilt. Das Urteil ist zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Prozessberichtes rechtskräftig. Gegen ihn ist noch ein weiteres Verfahren wegen seiner Beteiligung am Überfall auf das AJZ Erfurt im Mai 2016 anhängig.

Am 5. Februar findet am Amtsgericht Leipzig die Verhandlung gegen den 22-jährigen Julian F. aus Erfurt statt. Den Vorsitz hat Amtsrichterin Ludewig inne, ihr zur Seite sitzen zwei Schöffen. Die Staatsanwaltschaft wird von Herrn Brückner vertreten, der Angeklagte von Rechtsanwältin Schreiter aus Erfurt. Der Angeklagte, der als Paketzusteller arbeitet, war zur Tatzeit „Heranwachsender“ (zwischen 19 und 21 Jahren), außerdem werden ihm von der Jugendgerichtshilfe Reifedefizite attestiert. Verhandelt wird daher vor einem Jugendschöffengericht.

Anklageverlesung und Verständigung

Richterin Ludewig verliest zu Beginn die übliche Anklage mit den am 11. Januar 2016 in der Wolfgang-Heinze-Straße in Connewitz verursachten Sachschäden. Körperverletzungen werden nicht erwähnt. Der Vorwurf gegen F. lautet wie in allen anderen Connewitz-Prozessen besonders schwerer Landfriedensbruch. Zum Tatzeitpunkt war der Angeklagte 19 Jahre alt.

Im Vorfeld der Verhandlung gab es eine Verständigung zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung des Angeklagten. Die Verhandlung wird kurz unterbrochen, um die Schöff_innen darüber zu informieren. Nach der Pause erklärt die Richterin den Vorschlag: Gegen eine geständige Einlassung – mehr als eine Bestätigung des schon Bekannten – wird dem Angeklagten eine Jugendstrafe zwischen einem Jahr plus zwei Monaten und einem Jahr plus fünf Monaten, die auf Bewährung ausgesetzt wird, zugesichert.

F. stimmt dem zu. Der Staatsanwalt ebenfalls. Allerdings verweist er auf eine noch ausstehende Entscheidung des Amtsgerichts Erfurt, wo noch ein weiterer Prozess gegen F. läuft. Dabei geht es um die Frage, ob der Angeklagte tatsächlich nach Jugend- oder bereits nach Erwachsenenstrafrecht zu behandeln ist. Richterin Ludewig sagt dazu, dass die Verständigung (und auch das Geständnis) hinfällig würde, wenn sich Erkenntnisse ergeben, dass F. nicht mehr unters Jugendstrafrecht fällt.

Einlassung des Angeklagten

F. berichtet, er habe eigentlich zur Legida-Kundgebung fahren wollen. Dazu habe er sich in Erfurt mit mehreren Personen getroffen. Unterwegs habe er von anderen gehört, dass es statt dessen nach Connewitz gehen sollte. Das habe er aber nicht ernst genommen. An einem Vortreffpunkt vor Leipzig seien mehr als hundert Menschen gewesen, viele von ihnen vermummt. Dort habe jemand erklärt, dass sie nach Connewitz fahren. Daraufhin seien die Menschen in den Autos in den Leipziger Stadtteil gefahren. Dort seien die Autos abgestellt worden und man sei in einer großen Masse losgezogen. Plötzlich hätten Leute um ihn herum angefangen, Bengalos zu zünden und zu randalieren. Nach wenigen Minuten seien sie von der Polizei festgesetzt worden.

Auf Nachfragen der Richterin konkretisiert F. seine Einlassung: Von der geplanten Fahrt nach Leipzig, zum einjährigen Jubiläum von Legida, habe er durch eine Rundnachricht bei Whatsapp Kenntnis erlangt. Zur Fahrt getroffen habe er sich mit etwa 15 bis 20 Personen am Erfurter Bahnhof. Von diesen habe er „ein paar Leute“ gekannt. Insgesamt seien sie mit drei Autos aus Erfurt losgefahren. Mit wem er selbst im Auto saß, will F. nicht sagen. Unterwegs hätten sie in Mellingen gehalten. Dort seien weitere, ihm unbekannte Personen mit zwei Autos dazugekommen. Diese hätten erzählt, dass es nach Connewitz gehen soll. Er habe das als „Spaß“ verstanden.

Der nächste Halt war bei einer Autobahnabfahrt bei Leipzig. Dort seien bereits mehrere hundert Menschen gewesen, alle schwarz gekleidet, ein paar auch vermummt. Er selbst habe nichts zum Vermummen dabei gehabt. Es seien Steine ausgegeben worden. Außerdem seien Zettel mit dem nächsten Treffpunkt verteilt worden. Es sei eine Ansage gemacht worden, dass von jedem, der abhaut, dass Kennzeichen aufgeschrieben würde. Das habe er als beängstigend empfunden. Insgesamt habe der Aufenthalt etwa fünf Minuten gedauert, dann seien sie eine Viertelstunde nach Leipzig gefahren und vom Parkplatz aus noch mal zehn Minuten gelaufen. Sie seien da etwa 60-80 Personen gewesen, es seien aber noch welche dazugekommen. Die meisten seien bereits vermummt gewesen. Eine Person habe sie mit Rufen wie „Jetzt geht‘s los!“ motiviert. Bei einer Baustelle in einem Hinterhof seien Steine mitgenommen worden. Zu diesem Zeitpunkt hätten sie sich noch ganz leise bewegt – das sei vorher so gesagt worden. An einer größeren Straße hätten sich schließlich etwa 200 Personen gesammelt. Dann sei die Menge „von Null auf Hundert“ in eine Straße gerannt, es wurden Bengalos gezündet, Fenster eingeworfen und gegen Autos getreten.

Auf Nachfrage sagt F., er sei „fast ganz hinten“ gelaufen. Die Personen aus seiner Reisegruppe aus Erfurt habe er aus den Augen verloren. Schließlich seien sie in einer Seitenstraße von der Polizei eingekesselt worden. Er selbst habe keine Scheiben eingeworfen und keine Bengalos gezündet. Insgesamt habe alles nur fünf Minuten gedauert. Dabei seien ständig Parolen wie „Wir holen uns Leipzig zurück“, „Hooligans“ und „Macht die Zecken platt“ gerufen worden. Viele Personen hätten Sturmhauben mit den Farben Rot-Weiß getragen. Diese ordnet F. den Fans des Halleschen FC zu, aber nicht RW Erfurt.

Auf der Fahrt von dem letzten Vortreffpunkt nach Leipzig habe er sich noch mit seinem Mitfahrer unterhalten und gesagt: „Wären wir bloß mal zuhause geblieben.“ Sie hätten ja nur zur Demo von Legida gewollt. Richterin Ludewig fragt darauf hin, warum sie denn nicht weggefahren seien? „Man muss sich ja nicht an so einen Zettel halten.“ F. kann dazu nicht wirklich etwas sagen.

Auf die Frage nach seiner politischen Einstellung sagt F., er sei damals „sehr rechts“ gewesen und habe nur rechte Freunde gehabt. Die habe er beim Fußball kennengelernt, sie seien aber bald mehr zu Demos gefahren. Darunter seien auch NPD-Mitglieder gewesen. Von denen sei aber keiner mit in den drei Autos aus Erfurt nach Leipzig gefahren.

An den „Ausschreitungen“ in Connewitz hätten sich nur die Menschen vorn und an der Seite aktiv beteiligt, „schon die Mehrheit“. Ob auch Personen angegriffen wurden, habe er nicht gesehen. Kurz vor der Festsetzung habe er auf der Straße einen Haufen mit abgelegten Steinen und Teleskopschlagstöcken gesehen.

Auf die Frage einer Schöffin, ob er heute auch noch rechts sei, antwortet F.: „Ich bin ein normaler Bürger.“ Früher sei er dagegen jede Woche zu rechten Demos gegangen.

Befragung durch den Staatsanwalt

Staatsanwalt Brückner fragt F., ob er in seiner Gruppe einer „Funktion“ gehabt habe. F. sagt dazu, er sei nur „unterstützend“ dabei gewesen. Auf die Frage, ob er Gewalt als politisches Mittel angewandt habe, sagt F.: „Bei Demos nie“. Anders sei es gewesen, wenn er betrunken gewesen sei.

Der Staatsanwalt führt eine Reihe von weiteren Anklagen gegen F. an: So hat er im Mai 2016 am Himmelfahrtstag mit anderen das AJZ (Alternatives Jugendzentrum) in Erfurt abgegriffen, dabei wurden u.a. „Dreckszecken“ und „Sieg Heil“ gerufen. Im September 2017 ist er bei einem weiteren Übergriff dabei gewesen. „Ich habe den Eindruck, dass Gewalt für sie ein probates Mittel ist.“ Das sei damals so gewesen, sagt F.

Staatsanwalt Brückner nennt den Namen der Gruppe, der F. damals angehört hat: „Kollektiv 56“. Auf ihrer Facebook-Seite beschreibt sich die Gruppierung als: „Jugendliche aus Erfurt, die die Schnauze voll von politischer Korrektheit und Umerziehung haben. Ihr findet uns auf den Straßen unserer Stadt!“ F. bestätigt, dieser Gruppe bis Mitte 2016 angehört zu haben. Nachdem er wegen des Angriffs auf das AJZ Erfurt einige Monate in Untersuchungshaft war, habe er sich „von allen“ distanziert, er sei jetzt nicht mehr „politisch“.

Als nächstes liest der Staatsanwalt die Namen von sechs weiteren Personen aus Erfurt vor, die am 11. Januar 2016 in Connewitz festgesetzt wurden: Robert B., Axel G., Tobias K., David L., Johann Walter R. und Thomas S. Der Angeklagte F. bestätigt, B., K., L. und R. zu kennen und in Connewitz gesehen zu haben.

Beweisaufnahme

Auf die Anhörung von Zeug_innen wird verzichtet. Stattdessen werden die Aussagen von mehreren Zeug_innen im Selbstleseverfahren hinzugezogen. Dafür wird die Verhandlung für eine halbe Stunde unterbrochen.

Als nächstes werden die Vorstrafen von F. aufgelistet. Im Bundeszentralregister finden sich fünf Einträge, beginnend mit Urteilen aus dem Jahr 2013, u.a. wegen vorsätzlicher und gefährlicher Körperverletzung sowie versuchter räuberischer Erpressung. Teilweise handelt es sich um Aktivitäten im Fußballmilieu (Faustschlag gegen Polizisten bei Personalienfeststellung nach Sachbeschädigung aus einer Gruppe von Rot-Weiß-Erfurt-Fans), teilweise um rassistisch motivierte Gewalttaten (Schläge und Tritte gegen einen als „Fidschi“ beleidigten Mann). Der letzte Eintrag bezieht sich auf einen Vorfall vom 5. Mai 2016 (Himmelfahrt). Zusammen mit anderen Personen hat F. dabei eine Person angegriffen und ihr mehrere Gegenstände geraubt, u.a. eine teure Kamera. Er war dabei betrunken und maskiert. Am selben Tag soll er am Überfall auf das AJZ in Erfurt beteiligt gewesen sein. Dazu steht der Prozess jedoch noch aus.

Als nächstes soll der Bericht der Jugendgerichtshilfe vorgetragen werden. Die Verteidigerin von F. beantragt, die Öffentlichkeit dabei auszuschließen. Der Staatsanwalt sieht dafür keine Veranlassung, Richterin Ludewig gibt dem Antrag aber statt.

Nachdem die Öffentlichkeit wieder zugelassen ist, berichtet F. noch, dass er aus der Untersuchungshaft heraus (nach dem Überfall auf das AJZ) Kontakt mit einem Aussteigerprogramm aufgenommen habe. Zu einem Treffen sei es jedoch nicht gekommen.

Damit ist die Beweisaufnahme abgeschlossen.

Plädoyers

Die Staatsanwaltschaft sieht den Tatvorwurf bestätigt. Der Angeklagte habe sich geständig gezeigt und auf Nachfrage detailliert Auskunft gegeben. Durch die Berichte von Polizisten und weiteren Zeug_innen werde gestützt, was der Angeklagte eingeräumt habe.

Der Staatsanwalt schließt sich dem Bericht der Jugendgerichtshilfe an, wonach bei F. zum Tatzeitpunkt erhebliche Reifedefizite bestanden haben (Geltungsdrang und Abenteuerlust, Verlassen auf Unterstützung durch Familie). Jedoch könne man nicht von jugendtypischen Verfehlungen sprechen, sondern von einem planmäßigen Agieren, bei dem eine politische Gruppierung Gewalt auf die Straßen getragen habe. F. habe Gewalt damals für ein probates Mittel gehalten und auch selbst wiederholt ausgeübt.

Er ist dafür extra aus einer anderen Stadt angreist, es handelte sich um eine Einschüchterung und einen Angriff auf das Sicherheitsgefühl eines ganzen Stadtteils. Dabei wurde bewusst in Kauf genommen, dass Personen verletzt werden könnten. Es ist daher als Ausdruck eines politischen Aktivismus zu sehen. Zum Strafmaß meint der Staatsanwalt, dass F. vielfach vorbestraft ist und zum Tatzeitpunkt auf Bewährung war. Die Dimension der gesamten Tat erfordere ein Mindestmaß von 6 Monaten Freiheitsentzug. Ihm zu Gunsten hält er hingegen sein Geständnis. Er fordert schließlich 1 Jahr und 5 Monate, zur Bewährung auszusetzen auf eine Zeit von 3 Jahren. Zusätztlich soll F. eine Geldstrafe von 2.000 Euro an die Staatskasse zahlen.

Die Verteidigung von F. schließt sich dem Staatsanwalt im Wesentlichen an. Gefordert wird ein Strafmaß zwischen 1 Jahr und 2 Monaten und 1 Jahr und 5 Monaten, ausgesetzt zur Bewährung. Zusätzlich soll eine Geldstrafe von insgesamt 3.000 Euro gezahlt werden, worin aber eine Summe von 2.000 Euro aus einer anderen Verurteilung beinhaltet sein soll, die der Angeklagte bereits seit einiger zeit abbezahlt.

Urteil

Richterin Ludewig spricht abschließend ein Urteil von 1 Jahr und 5 Monate zur Bewährung aus, mit einer Geldstrafe von 2.000 Euro. Gegen das Urteil werden keine Rechtsmittel eingelegt.

Weiterführende Informationen zum neonazistischen „Kollektiv 56“ und zum Überfall auf das AJZ in Erfurt:

http://sabotnik.blogsport.de/2015/07/28/neue-nazigruppe-in-erfurt
https://www.belltower.news/sind-das-antifas-nein-das-ist-das-rechtsextreme-antikapitalistische-kollektiv-44138
]
https://ezra.de/chronik
(5.5.2016 – Erfurt – Vier Personen verletzt bei Neonazi-Angriff auf autonomes Jugendzentrum)